Die Kirche im postmodernen Europa – CETTINA MARRAFFA (GELESEN VON CESARE ROTUNDO)

BERICHT

CETTINA MARRAFFA
(GELESEN VON CESARE ROTUNDO)
(Scaffhausen, 30 April 2011)

Kirche, was bist du?

Die Kirche im postmodernen Europa

Die moderne Welt ist durch eine ständige Ausdifferenzierung und einer beachtenswerten Komplexität gekennzeichnet[1]. Sie ist in sich selbst pluralistisch und komplex. Nachdem der christliche Glaube seine bindende und verbindende Rolle, durch die moderne Säkularisation verloren hat, haben sich zahlreiche unabhängige Systeme von Normen, Anhaltspunkten und Deutungen entwickelt: die Sphäre des öffentlichen und privaten Lebens, die Sphäre der Arbeit und der Freizeit, die Sphäre der Kultur, der Kunst, der Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft, etc. Auf diese Weise sind die Religion und die Kirche nur noch ein Feld des modernen Lebens unter vielen. Neben diesen Sphären gibt es diejenigen der Kultur und der jeweiligen Spezialisierung, die ihr autonomes Recht einholen. Jede dieser Sphären ist aber in sich auch wieder stark von Differenzierung, Komplexität und Pluralität geprägt. Es gibt nicht mehr die Wahrheit, sondern die Wahrheiten. Jeder, der die eine Wahrheit verteidigt, wird sofort bezichtigt ein Fundamentalist zu sein. Das, was die Postmoderne auszeichnet sind der Relativismus, der Skeptizismus oder sogar der Nihilismus. Die Postmoderne versteht sich als „schwacher Gedanke“ [2]. Auch das Umfeld der Religion ist pluralistisch geworden. Nicht nur die katholischen, protestantischen und orthodoxen Christen, Juden, Moslems und Anhänger anderer Religionen, wie die aus den asiatischen Traditionen leben nebeneinander, sondern auch völlig neue religiöse Bewegungen.

Die Kirche im europäischen Rahmen des Pluralismus

Die Frage nach der Stellung der Kirche in einem pluralistischen Europa, erwächst in diesem Kontext in fast natürlicher Weise. Diese Stellung kann durch das vielsagende Bild der „zum Menschen geneigten Kirche“ beschrieben werden, eine Kirche nach der Logik des Dienens, nicht des „Bedientwerdens“. Die Kirche muss in dieser Dynamik des Dienens stets die Wahrheit des Wortes Gottes verkündigen und mit Hilfe der Gnade muss sie sich stets als „sicheren Hafen“ verstehen, in dem die menschliche Person die übernatürliche Erbauung findet, welche zur Förderung des ganzheitlichen Heils und seines ganzen Seins wird. Entsprechend den Worten des Evangelisten Johannes in seinem Evangelium, macht nur die Wahrheit frei (vgl. Joh 8,32). Eine Kirche „in Richtung“ des Menschen, eine (können wir folglich definieren) samaritanische Kirche zu sein bedeutet also die Wahrheit des Evangeliums in seiner ganzen Macht des Heils zu verteidigen und zu verkündigen. In dieser Wahrheit finden die Würde des Menschen und die Geschichte ihre authentische Dimension. Selbstverständlich können wir es in all dem nicht vermeiden unseren Blick auf den einzigen Lehrer und Herrn Jesus Christus zu richten. Ich mache die Worte des Kard. Kaspers, die er in seinem Referat „La Chiesa e l’Europa di fronte alla sfida del pluralismo” mein. In diesen Worten hebt der Kardinal hervor, wie sich Christus als den Weg, die Wahrheit und das Leben in einem sozio-kulturellen und kirchlichen Umfeld vorstellt, der unserem in gewisser Weise gleicht:

“Er hat die Wahrheit in einer einzigartigen, noch nie gehörten Weise beansprucht, die von seinen Gegnern als unverschämt angesehen wurden. In den Antithesen der Bergpredigt, wiederholt er öfters: ‚Ich aber sage euch‘ (Mt 5,22.28.32.34.39.44). Er behauptet die Wahrheit in Person zu sein: ‚ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ (Gv 14.6). Gleichzeitig steht Jesus inmitten seiner Jünger als „derjenige, der dient‘ (Lc 22,27). Er steht im Dienst der anderen; er ist nicht gekommen um zu dominieren, sondern um das Leben zu geben ‚für viele‘ (Mc 10,45). Ein Gesang, der ursprünglich Christus gewidmet war lautet: ‚Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt ‚Jesus Christus ist der Herr‘ – zur Ehre Gottes, des Vaters. (Fil 2,6‑11). Durch seinen Dienst “verbraucht” und verschenkt er sich gänzlich, Christus wird zum Herrn der Welt: er wird zum neuen Weltgesetz der Liebe.“

Die Liebe ohne Wahrheit, sowie die Toleranz ohne Wahrheit, ist falsch, leer und oberflächlich. Eben diese Botschaft nimmt den Einzelnen in seiner Individualität und in seiner Persönlichkeit sowie in seiner Interaktion mit der Gesellschaft ernst. Sie lässt ihn nicht in der Menge, in einer undifferenzierten Art und Weise innerhalb eines globalen Systems untergehen. Der Einzelne ist keine Zahl unter vielen. Gleichzeitig riskiert der Einzelne aber nicht, dass er dem Rest fremd und von den anderen isoliert wird. Dies ist nämlich ein Risiko, der dem Pluralismus innewohnt, weil er zu einem eisigen Umfeld und zur Isolierung der menschlichen Beziehungen führen kann. Die Isolierung ist ein Charakteristikum unserer Zeit. Die Liebe, im Gegensatz, vereint und hält zusammen. Die Liebe ist solidarisch und schützt vor dem individualistischen Egoismus. Sie sorgt sich um das Wohlergehen aller, indem sie das Gut und das Recht des Einzelnen garantiert und verteidigt. Obwohl sie nicht im Gegensatz zur Globalisierung steht, begnügt sie sich nicht mit einer Globalisierung der Giganten der Wirtschaft in den internationalen Weltmärkten. Sie wünscht eine Globalisierung der Solidarität. Sie baut keine Chinesische Mauer um das Haus Europa, sondern sie bemüht sich um das Wohlergehen der armen und benachteiligten Länder.

Die Kirchlichen Bewegungen und ihr Standort in der Kirche im Kontext der Postmoderne

Der Eifer und die Leidenschaft, aber auch die Freude mit welcher die Mitglieder der kirchlichen Bewegungen ihren Glauben leben und die sie auch den anderen bezeugen, um die hoffnungsbringende Botschaft des Evangeliums unseres Herrn Jesus Christus zu vermitteln, wird vom zukünftigen Papst Benedikt der XVI. in seiner Rede zur Eröffnung der ersten Tagung der kirchlichen Bewegungen aufgenommen. In besonderer Weise erinnert er sich daran, wie in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Entstehung diese kirchlichen Wirklichkeiten, unter dem Wirken des Heiligen Geistes, zu einem neuen Frühling der Kirche und zur Annährung zum Glauben vieler Brüdern und Schwestern gesorgt haben. Es besteht kein Zweifel, dass der Versuch, die verschiedenen entstehenden Gruppen und Bewegungen mit den traditionellen Wirklichkeiten, wie z.B. das Bistum oder die Pfarrei es sind, zu harmonisieren, eine wichtige und aufwendige Aufgabe gewesen war. Trotzdem unterstreicht der damalige Kardinal Ratzinger, wie das Papstamt, auch wenn es keine Bewegung gegründet hat, sich immer dafür eingesetzt hat, dass sich Letztere aktiv und fruchtbar innerhalb der kirchlichen Struktur integriert haben. Um den Reichtum an Früchten des Heiligen Geistes zu beschreiben, die sich auch durch die Bewegungen auf die Kirche ausgeschüttet haben, vergleicht der damalige Kard. Ratzinger diese Wirklichkeiten mit dem Mönchstum. Auf dieselbe Weise, wie sich das Mönchtum nie als alternative oder parallele Struktur zur Kirche entwickelt hat, genau so entstehen die Bewegungen mit dem Ziel das Volk Gottes auf den Weg der Nachfolge des Evangeliums im Gehorsam zur ekklesialen Hierarchie zu begleiten. Obwohl sich die Bewegungen innerhalb der Kirche situieren und im vollen Gehorsam zum Lehramt und zur Tradition leben, behalten sie doch ihre eigene spezifische Identität, ihr spezifisches Charisma bei und sie qualifizieren sich als Schule des Lebens und der Gemeinschaft, in welcher der christliche Glaube weiter gegeben und verfestigt wird.

Den positiven Beitrag, welchen die Bewegungen dem Leben der Kirche leisten, wird auch in der Botschaft an die Teilnehmenden des Zweiten Weltkongresses der kirchlichen Bewegungen „La bellezza di essere cristiani e la gioia di comunicarlo”. Die Schönheit ist die Einheit, die Liebe, die bezeugte Freude der Frauen und Männer, die Christus getroffen haben. Dieses Zeugnis schafft einen Fluss, der in „Bewegung“ setzt. Auf diesem Weg haben die Gründer und Inizianten der Bewegungen, die dem Ruf Christi „Ja“ gesagt haben, den vielen anderen, die sich im Anschluss dem einen oder anderen Charisma angeschlossen haben, den Weg bereitet.

An der zweiten Tagung hat Papst Benedikt XVI. den Bewegungen eine klare Aufgabe anvertraut: „Bringt das Licht Christi in alle sozialen und kulturellen Umfelder, in welchen ihr lebt. Am missionarischen Aufschwung ist Radikalität einer Erfahrung der Treue zu sehen, die passend zu eurem Charisma immer wieder erneuert wird und so jegliches müdes und egoistisches ‚auf sich selbst gebeugt sein‘ hinter sich lässt. Aus dieser Perspektive heraus wird verständlich, warum die Bewegungen, weil sie Zeichen der Schönheit Christi und der Kirche sind und aktive pastorale Werkzeuge sind, sich mit neuer Kraft und Aufschwung dem Anliegen der Mission öffnen müssen. In diese Richtung weist der Aufruf der Bischöfe an die Teilnehmer am Seminar zum Thema der kirchlichen Bewegungen, der vom Päpstlichen Rat der Laien angeregt wurde, der die Einladung beinhaltet, die Bewegungen als Geschenke Gottes anzunehmen, die die Kirche bereichern. Die Aufgabe der Bischöfe besteht, gemäss den Hinweisen des Papstes, darin, dass sie die Mitglieder dahingehend begleiten, damit sie die verschiedenen Gaben und Charismen die ihnen der Heilige Geist zugeiteilt hat, innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft fruchtbar werden lassen können: Die Mission, die Karitas, die Bildung, das Zeugnis des Gehorsams gegenüber der Kirche. Papst Benedikt XVI. erinnert weiter daran, dass weiterhin neue Gemeinschaften gebildet werden: auch diesen müssen die Bischöfe Acht geben und versuchen, dass die neuen Wirklichkeiten, sowie die Unterschiedenheit der verschiedenen Charismen des Heiligen Geistes nicht erstickt werden. Die Aufmerksamkeit der Bischöfe muss dementsprechend dahingehend wirken, dass die Besonderheiten der Gaben der verschiedenen Bewegungen, akzeptiert und unterstützt werden, denn diese unterstehen trotz ihrer Unabhängigkeit dem Gehorsam den Bischöfen und dem Papst.

Die Apostolische Bewegung

Im Lichte des eben Gesagten ist es geboten, dass ich einige Aspekte betreffend der Apostolischen Bewegung hervorhebe. Die A.B. fördert eine solide theologisch-spirituelle Bildung. Diese führt zur Eintracht und zur Verbindung von Glaube und Wahrheit sowie Glaube und Leben und begünstigt eine einschneidende und bedeutsame Evangelisation. Gerade der Eifer für die Evangelisation, verbunden mit der Bemühung um Bildung, ermöglicht, dass die Mission in der Kirche und in der Welt authentisch wird und ganz konkret im Leben der christlichen Gemeinschaft, der Pfarrei und in den Strukturen der Partizipation, immer in Eintracht mit allen anderen kirchlichen Gruppierungen, wirken kann.

[1] Luhmann Niklas, Potere e complessità sociale, Il Saggiatore, Milano 1979; Come è possibile l’ordine sociale, Laterza, Bari 1985; Sistemi sociali: fondamenti di una teoria generale, Il Mulino, Bologna 1990.

[2] Vattimo Gianni, Il pensiero debole, Feltrinelli, Milano 1990.